Der digitale literarische Zirkel
Beim Social Reading liest man nicht mehr nur alleine, sondern gemeinsam. Man tauscht sich aus mit einer Gruppe wie in einem digitalen literarischen Zirkel.
„Social Reading ist die Kombination von Text und Kommunikation über den Text online und öffentlich oder für ausgewählte Leser zugänglich. Leser kommentieren dabei für alle anderen Leser sichtbar den Text und reagieren auf Anmerkungen anderer Leser, gewissermassen ein Chat im Text über den Text.“ [1]
Ein Text wird für die gemeinsame Arbeit geteilt, zeit- und ortsunabhängig annotiert, mit Leseerfahrungen, Fragen und Ergänzungen. Gespräche und Diskussionen werden direkt im Text geführt.
„Der Text eröffnet sich dem Leser als diskursiver Raum, in welchem sich der gesamte Leseprozess einer Gemeinschaft wie ein Abbild oder eine Landkarte darstellt.“ [3]
Das Resultat ist eine Metaebene, ein gemeinsames Werk, ein ausführlicher Kommentar.
„Aus diesen Diskussionen entsteht zusätzlich ein neuer Text; der Megatext aus literarischem Werk und dem Leseprozess seiner Rezipienten sowie deren Interaktionen und Kommentaren.“ [2]
Dies ist ein interessantes Feld für den Fernunterricht, für den Übergang vom Fern- zum Direktunterricht, für Blended Learning!
Vorteile
Beim Social Reading kann man sich mit Document Sharing gemeinsam synchron und asynchron mit Texten auseinandersetzen.
Alle Diskussionsteilnehmer sind gleichberechtigt und können eine Diskussion anregen.
Schüler*innen können ihr Wissen einbringen und Fragen schon bei der Lektüre von Kolleg*innen beantwortet werden. Auch stille Schüler sind eher am Diskurs beteiligt.
Die Lehrkraft kann sich mit den Annotationen auf die Lektion vorbereiten und im Direktunterricht auf die Anmerkungen eingehen.
Im Unterschied zum Austausch in analogen literarischen Zirkeln bleiben alle Aussagen zu einem Text erhalten.
Beim kollaborativen Annotieren von Schullektüre sieht man schon während der Lektüre, welche Textstellen von Kolleginnen als zentral wahrgenommen werden, wie andere damit arbeiten und was sie dazu denken.
Mit Social Reading lässt sich mit einer Klasse eine Kommentarkultur entwickeln.
Anwendungen
Denkbar sind alle möglichen Textsorten: Gedichte, Szenen eines Dramas, Literaturgeschichte, Sachtexte, Aufsätze, aber auch Unterrichtsentwürfe, Skripte und Unterrichtsideen.
Ein Text kann aufgeteilt und individuell von Kleingruppen für die Besprechung im Unterricht vorbereitet werden.
Schüler lesen und kommentieren vor der Lektion ein Unterrichtskonzept und beeinflussen mit ihren Kommentaren die Rahmenbedingungen und das Vorgehen.
Mit Social Reading kann man gemeinsam komplexe Sachtexte erschliessen und so basale Kompetenzen trainieren.
Social Reading Erfahrungen können auch eingebettet werden in andere Versuche mit Digital Humanities, z. B. mit Distant Reading oder Open Data.
Beat Döbeli hat Social Reading als ersten Schritt zur flipped conference diskutiert und von einer permeablen Tagung oder amplified conference gesprochen [4]: Social Reading zur Vorbereitung von Präsenzveranstaltungen. Er erhofft sich fundierte Diskussionen und eine bessere Nutzung der Präsenzzeit. Der Vorbereitungsaufwand erhöhe sich aber für alle Beteiligten und es bestehe auch die Gefahr, dass nur wenige aktiv beitragen und die meisten einfach mitlesen. Im Unterricht lässt sich dies aber mit verbindlichen Arbeitsaufträgen steuern.
Umsetzung mit Word
Wir arbeiten mit Word Online. Ebenso denkbar wären Google Docs oder professionelle Annotationstools wie Nota Bene oder Hypothes.is oder A.nnotate oder Genius.
- Schüler können mit Einfügen – Kommentar Anmerkungen schreiben oder Fragen stellen und auf Kommentare antworten. Sie können mit der @-Funktion Autoren auch so ansprechen, dass diese benachrichtigt werden und schnell reagieren können.
- Alle Kommentare zeigen den Autor an und haben einen Zeitstempel.Onedrive erlaubt die Arbeit in geschlossenen Gruppen. Innerhalb einer Office 365-Institution können beliebige Lesergruppen gebildet werden: unter Lehrern, innerhalb einer Klasse, in Kleingruppen oder klassenübergreifend.
- Möchte man zu einem Text auch anonyme Kommentare erlauben, kann man das Dokument mit einem geheimen Weblink freigegeben.
- Wörter können farblich hervorgehoben und wortgenau mit Kommentaren annotiert werden. Markierungen im Text lenken die Aufmerksamkeit von Mitlesern und helfen arbeitstechnisch, wenn man sieht, was andere als wesentlich wahrnehmen.
- Die Übersichtlichkeit bleibt weitgehend erhalten: Klickt man im Text auf das Kommentarsymbol, wird der dazugehörige Kommentar hervorgehoben. Klick man auf das Kommentarsymbol, werden die entsprechende Textstelle und der Kommentar markiert.
Faust Projekt
Ich mache nun mit einer dritten Klasse einen ersten Versuch, die Primärlektüre von Goethes Faust I mit einem Word-Dokument auf OneDrive zu begleiten.
Die Schüler haben sich die analoge oder digitale Reclam XL Ausgabe gekauft. Sie lesen und bearbeiten ihren Text digital in dieser privaten Ausgabe. Der Lehrer hat den gleichen Text in eine Worddatei umgewandelt und mit Schreibrechten für die Klasse freigegeben. Hier annotieren wir während der Primärlektüre regelmässig. So lesen alle für sich und doch gemeinsam.
Wir befolgen die Regeln zum Annotieren, auf die wir uns geeinigt haben. Dabei verwenden wir die folgenden Farben:
violett | Ergänzungen und Querverweise |
gelb | Markierungen |
blau | Links zu Beispielvideos, Audiodateien, anderen Fachtexten, zu freigegebenen weiterführenden Dokumenten. |
grün | Lektüreeindrücke, Kommentare |
rot | Fragen |
grau | Emojis |
Zudem ist ein zweites Dokument freigegeben, in dem Ideen zum Vorgehen eingetragen werden können. Sinnvolle Vorschläge werden im Sinn einer rollenden Planung laufend in das Projekt eingebaut.
Fazit
- Die Kulturtechnik der Annotation kann mit digitalen Mitteln wesentlich erweitert werden.
- Social Reading bietet Chancen für den Literaturunterricht, aber auch für die Textarbeit in allen anderen Fächern.
- Der Lernprozess wird intensiviert in Bezug auf das Vorgehen, die Arbeitstechnik und auch auf das Textverständnis.
- Die Klasse versteht sich als Team und arbeitet zusammen.
Links
- [1] Harald Henzler, Christine Khalaf, Ralf Möllers: Thesen zur Zukunft des Social Readings.
- [2] Philipp Schweighauser, Marion Regenscheit und Jelscha Schmid: Vom Close Reading zum Social Reading. Lesetechniken im Zeitalter des digitalen Texts.
- [3] Pleimling, Dominique. “Social Reading – Lesen im digitalen Zeitalter” Politik und Zeitgeschichte. Print. Zitiert in: [2] Philipp Schweighauser.
- [4] Beat Döbeli Honegger und Michael Hielschieler: “Tagungsbände als Diskussionsräume? Social Reading als erster Schritt zur flipped conference.
- Nicola Steiner: Social Reading: Gemeinsam statt einsam lesen.